Therapeutisch-morphologische Lebensformkritik

Wie ist eine morphologische Lebensformkritik im Anschluss an Wittgensteins therapeutische Philosophie möglich? – Konsequenzen für die Philosophie des Geistes aus Deutungen der Wittgenstein'schen Metaphilosophie

Dieses Projekt hat drei Ziele: 1. Eine Reform kritischer Philosophie auf der Grundlage einer Wittgenstein'schen Philosophie des Geistes; 2. eine Rekonstruktion der Geschichte der Fehldeutungen der Wittgenstein'schen Philosophie; 3. Eine philosophische Neubewertung der Probleme der Philosophie des Geistes für eine kritische Philosophie. 

Das Projekt ist eine Fortführung des Therapieprojektes an der Professur (Geschichte philosophischer Therapie von Spinoza bis Cavell). In diesem Projekt wurden bisher Studien zur therapeutischen Philosophie im Allgemeinen, zu Spinoza, der Psychoanalyse und Cavell abgeschlossen. Hier wird eine Anwendung der Unterscheidung zwischen doktrinärem und nicht doktrinärem Philosophieren angestrebt, Michael Hampe jüngst eingeführt haben, mit Blick auf die Rolle innovativen/dissidenten Sprechens als eines therapeutischen Mittels in einer morphologischen Lebensformkritik im Anschluss an Wittgenstein zu leisten.

Zunächst wird Russells Kritik an Wittgensteins Spätphilosophie untersucht, nach der sich der Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen vermeintlich um Trivialitäten kümmerte, die Alltagssprache heiligsprach, sein Denken gegen wissenschaftliche Kritik zu immunisieren trachtete und deshalb letztlich unwissenschaftlich vorging. Es werden anhand der Auseinandersetzung mit der russellschen Deutung die Schwierigkeiten eines angemessenen Verständnisses des wittgensteinschen Vorgehens geklärt und das hinter der Kritik an den PU stehende doktrinäre Philosophieverständnis dargestellt, gegen das sich Wittgenstein in seinen Überlegungen immer wieder richtet. Darüberhinaus wird sich Russells eigenen Vorstellungen von adäquater Philosophie des Geistes zugewandt, die eine Angriffsfläche wittgensteinscher Kritik darstellen. Die russellsche Form von Philosophie des Geistes, gelegentlich gekoppelt mit Ansprüchen der Neurowissenschaften, wird bis heute gepflegt. Diese Form geht auf frühneuzeitliche Vorstellungen, vor allem von Descartes zurück. Trotz expliziter Abneigung gegen den cartesischen Substanzdualismus kann sich gegenwärtige Philosophie des Geistes meist nicht von den explanatorischen Folgelasten dieser Tradition verabschieden.

Daran anschliessend wird die Rezeptionsgeschichte der Wittgenstein'schen Philosophie des Geistes anhand paradigmatischer Autoren rekonstruiert, deren heterogene Deutungen und Fortführungen wittgensteinscher Gedanken mithilfe des Begriffs der Familienähnlichkeit betrachtet werden. Über die unter dem Schlagwort „Behaviorismus“ zusammengefassten Positionen Ryles' und Sellars' führt die Untersuchung vorbei an Brandoms Inferentialismus, den als konservativ-analytisch geltenden P.M.S. Hacker und Deutungen des „New Wittgenstein“ von Cora Diamond zu Cavells autobiographischem Ansatz, Eugen Fischers Wittgenstein als kognitiven Therapeuten und schliesslich zu Arno Ros' begründungstheoretischem Synthetischen Materialismus.

Des Weiteren folgt dann eine Morphologie der Begriffe für Seelisches, einem Nachvollzug der Entstehung und Verwendung von Unterscheidungsfähigkeiten im Bereich des Mentalen im „Fluss des Lebens“ und ihrer narrativen „Erklärung“ in Wittgensteins „Mikrogeschichten“. Zur Fähigkeit zum alltäglichen regelgerechten Sprachgebrauch gehört auch der kreative Umgang mit Regelanwendungen auf neue Fälle; eine Kompetenz, die für die Lebensformkritik nutzbar gemacht werden kann. Dabei wird von Subjekten ausgegangen, die sich mithilfe von Begriffen für Psychisches zu ihrer eigenen und zu fremden Lebensformen kritisch-distanzierend verhalten können. Dies gilt sowohl für das therapeutisch-kritische Verhalten einzelner Sprecher wie auch für eine therapeutische und kritische Philosophie im Allgemeinen. Therapeutisches und kritisches Nachdenken in diesem Sinne muss nicht sprachspiel- oder lebensformrelativistisch (wie bei Rorty) werden oder sich resignierend auf die reine Beschreibung gegebener Ausdrucksformen beschränken. Kritikfähigkeit ist auch nicht auf einen sprachexternen Standpunkt „from nowhere“ auf die Lebensformen oder ein allen Menschen gemeinsames ideales Sprachspiel (im Sinne von Habermas) angewiesen. Diese Ansprüche einzulösen, ist ein Hauptanliegen des Projektes.

Mitwirkende:
Martin Münnich

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