Geschichte therapeutischer Philosophieverständnisse von Spinoza bis Cavell

Dass Philosophie Therapie sei, ist eine alte Vorstellung. Wir möchten untersuchen, was mit dieser Idee in der Moderne seit 1600 bis in die Gegenwart passiert. Den historischen Ausgangspunkt bildet Spinozas Ethica und die in ihr entwickelte Konzeption einer Therapie von Emotionen. Ein weiterer Anknüpfungspunkt im 17. Jahrhundert bildet die von Ehrenfried Walter von Tschirnhaus entwickelte Konzeption einer "medicina mentis" und ihr Schicksal in der Aufklärung, wobei ein besonderes Augenmerk dem Vergleich zwischen der Entwicklung populärer Philosophie oder Erziehungslehre einerseits (v.a. bei Zimmermann, Garve und Knigge) und der akademischen Schulphilosophie andererseits gelten soll. Eine unserer Hypothesen lautet, dass die Idee therapeutischer Philosophie seit Spinoza aus dem Selbstverständnis akademischer Philosophie verschwunden ist. Sowohl der Kartesianismus wie auch der Kantianismus kritisieren diese Idee als naiv.

Den Aufstieg der Psychotherapie insbesondere in Form der Psychoanalyse am Ende des 19. Jahrhunderts verstehen wir als Reaktion auf das Missverhältnis zwischen dem öffentlichen Bedürfnis nach philosophischer Therapie und der Weigerung der akademischen Philosophie, auf dieses Bedürfnis einzutreten. Im Konflikt zwischen Psychoanalyse und Philosophie spiegelt sich der alte Streit zwischen Schulphilosophie und nicht-akademischer Philosophie.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden parallel zur Entwicklung der Psychotherapie eine ganze Reihe einflussreicher therapeutischer Philosophien, die von den Ansätzen von Schopenhauer und Kierkegaard, über Nietzsche bis zu Emerson und Thoreau reicht. Letztere bilden den Ausgangspunkt für ein anderes therapeutisches Unterfangen in der Gegenwart, jenem von Stanley Cavell und dessen Wittgenstein-Rezeption. In Anlehnung Emerson und Thoreau begreift Cavell Philosophie als eine Art "Erziehung für Erwachsene". Das führt auf ein Problem: In welchem Sinn können Erwachsene "erzogen" werden? An welchen Standards orientiert sich solche Erziehung und auf welchen Voraussetzungen baut sie auf?

Die ersten beiden Teilstudien setzen beim Anfangs- und Endpunkt dieser Geschichte an: bei Spinoza und Cavell. Die eine Studie untersucht Spinozas Theorie des menschlichen Geistes daraufhin, wie menschliche Subjektivität konzipiert und in ihren konkreten Ausprägungen erklärt wird. Was ist es, was nach Spinoza an Emotionen leidet und welches Resultat zeitigt erfolgreiche Therapie? Anders als es die pantheistische Rezeptionstradition oft vorgeschlagen hat, gehen wir nicht davon, dass das Individuum von seiner partikulären epistemischen Perspektive auf die Welt "befreit" wird und seine Individualität quasi verschwindet, sondern wir begreifen Spinozas Therapieprogramm vielmehr als eines, in dem sich die Individualität von Subjekten auch in der vollständigen Erklärung ihres Leidens und ihres geschichtlich gewordenen Wesens erhält.

Die zweite Studie befasst sich mit Cavells Diagnose, dass die Philosophie ihre Verbindung zum alltäglichen Leben verloren habe und deshalb nicht mehr zu therapeutischer Wirkung im Stande sei. Mit dieser Diagnose schliesst Cavell unmittelbar an Austin und Wittgenstein an, die versucht haben, philosophische Überlegungen wieder im alltäglichen Praxis zu verwurzeln. Ziel ist eine Untersuchung von Cavells Konzeption einer therapeutischen Philosophie der Alltäglichkeit.

Auf lange Sicht hoffen wir zu einem neuen Verständnis des Verhältnisses von moderner Philosophie, Psychotherapie und Religion zu gelangen.

Mitwirkende:
Prof. Dr. Michael Hampe
Dr. Donata Schoeller
Susanne Wagner

Publikationen zum Thema:

  • U. Renz: Zwischen ontologischer Notwendigkeit und zufälliger Semantik. Zu Spinozas Theorie der menschlichen Affekte. In: Landweer, Hilge (Hrsg.): Gefühle - Struktur und Funktion (=Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 14). Berlin 2007, S. 25-56.
  • M. Hampe: Achilles' Brain: Philosophical Notes on Trauma. In: History of the Human Sciences 20(3), 2007, S. 85-103.
  • U. Renz: Die Definition des menschlichen Geistes und die numerische Definition von Subjekten (2p11-2p13s). In: Hampe, Michael/Schnepf, Robert: Baruch de Spinoza. Ethik. Reihe Klassiker Auslegen. Berlin 2006, 101-121.
  • U. Renz: Der mos geometricus als Antirhetorik. Spinozas Gefühlsdarstellung vor dem Hintergrund seiner Gefühlstheorie. In: Paul Michel: Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen. Freiburg 2005, 333-349.
  • M. Hampe: Rationalität als Selbsttherapie. Einführung in Spinoza. In: Dominik Perler/Ansgar Beckermann (Hg.), Klassiker der Philosophie, Stuttgart 2004.
  • M. Hampe: Plurality of Sciences and the Unity of Reason. In: Marianne Leuzinger-Bohleber /Anna Ursula Dreher/Jorge Canestri (Hg.), Pluralism and Unity? Methods of Research in Psychoanalysis, London 2003, S. 45-62.
  • M. Hampe: Theorie, Erfahrung und Therapie. Anmerkungen zur philosophischen Beurteilung psychoanalytischer Prozesse. In: Psyche 3/2001, S. 328-335.
  • M. Hampe: Interne Komplexität und Theorie der Affekte bei Hobbes. In: S. Hübsch / D. Kaegi, Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1998, S. 77-90.

Dieses Projekt wurde gefördert vom externe SeiteSchweizerischen Nationalfonds (Projekt-Nr. 115930).

Weitere Arbeitspapiere im Kontext von Philosophie als Therapie finden Sie auf externe Seitewww.socrethics.com.

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